© NANAnet Misburg-Anderten
Erlebte Geschichte
Opa, erzähl mal!
Gestaltung: Gisbert Selke
Immer, wenn mich meine Enkel gebeten haben, von früher zu erzählen, wurde ich zwangläufig an
meine eigene Kindheit erinnert. Gleichzeitig drängte sich mir der Gedanke auf:
Haben wir damals zu wenig gefragt?
Hat die jetzige Generation der Großeltern wirklich zu wenig gefragt, oder hat sie nur zu wenige
Antworten bekommen?
Unsere Lehrer erzählten in unzähligen Variationen von ihren Kriegserlebnissen. Gräuel, KZ’s und
Vernichtungslager blieben dabei ausgeklammert, eine schweigende Generation, traumatisiert, um
das Überleben am nächsten Tag besorgt. Unsere kindlichen Informationsquellen beschränkten sich
im Wesentlichen auf das neugierige Zuhören bei Familienfeiern, wo häufig unter recht einfachen
Umständen, aber dennoch ausgelassen gefeiert wurde. Das Ganze erinnert mich im Nachhinein an
den Filmtitel „Wir sind noch einmal davongekommen“.
Wir Kinder verbanden das Wort Frieden mit Trümmerbergen, Obdachlosigkeit, Heimatlosigkeit, Tod,
aber wir lebten im Jetzt und definierten den Begriff Leben mit dem, was wir erlebten, denn uns
fehlten gültige Vergleiche.
Trümmerberge mutierten zu attraktiven Spielstätten, Alltagsgegenstände zu unseren Spielgeräten.
Ein löchriger Topf ersetzte den fehlenden Rodelschlitten; auf alten Blechen mit gefährlich scharfen
Kanten rutschen wir über die auf der östlichen Seite des Kanals angehäuften Schneewehen und die
hohen Böschungen hinunter bis auf den Leinpfad des unteren Vorhafens der Schleuse.
Das gesamte Dorf war für uns ein ausgedehnter Spielplatz. Sandkästen, Wippen und Klettergerüste
fehlten zwar, aber unsere Kreativität kannte keine Grenzen. Langeweile bestimmte unsere Freizeit
selten.
Das Erlebte ist vorbei und doch nicht aus dem Gedächtnis getilgt. Im Alter ist der Fokus stärker
denn je auf die eigene kindliche Erlebniswelt gerichtet. Fehlte uns in den wichtigen Jahren wirklich
Entscheidendes zur kindlichen Entwicklung?
Trotz materieller Armut profitierten wir vom reichen Angebot Andertens und seinem Umfeld. Wir
nutzten unsere Freiheiten, ohne die Mitverantwortung für den familiären Alltag außer Acht zu
lassen. Beim Kartoffelroden freuten wir uns bereits darauf, nach getaner Arbeit einige frisch
geerntete Knollen im Kartoffelfeuer zu garen. Die Ausgewogenheit von Spiel und Pflicht bildete das
wichtige Fundament unserer körperlichen und geistig-seelischen Entwicklung.
Wir waren Kriegskinder, die ohne unsere Eltern, insbesondere ohne unsere Mütter nicht überlebt
hätten.
Opa, erzähl mal!
Öffnen wir das Fenster zur eigenen Geschichte, erzählen wir!
Die Erinnerung ist das einzige Paradies,
aus dem man nicht vertrieben werden kann.
Östliche Weisheit