© NANAnet Misburg-Anderten
Friede auf Erden
Erinnerungen an das Weihnachtsfest 1945 in Anderten
Bildbericht: Gisbert Selke
Auch heute, mehr als 70 Jahre nach Ende
des Zweiten Weltkrieges ist nichts vergessen.
Zu außergewöhnlich, dramatisch, ärmlich und
kalt waren die Tage um das Weihnachtsfest
1945.
Zum ersten Mal feierte ich das Geburtsfest
Jesu als wirkliches Friedensfest. Weite Teile
Misburgs lagen in Trümmern. Es fehlte uns
selbst am Notwendigsten.
Obwohl der Wetterbericht die Weihnachtstage
als „für die Jahreszeit zu mild“ bezeichnet
hatte, litten wir sehr unter der Kälte dieses
Winters 1945. Nach unserer Ausbombung
waren wir in einer ehemaligen Wehrmachts-
baracke auf dem Schützenplatz in Anderten
untergekommen. Nur der mit Holzabfällen
und Kohle beheizte Herd in der Küche gab
uns ein Gefühl von Wärme. An den Fenstern der übrigen Räume bildeten sich oft dicke Eisblumen. Die Kälte
dieses Winters hatte in unserer primitiven Behausung freien Zutritt. Nachts froren wir auf unseren mit
Strohsäcken ausgestatteten Wehrmachtsbetten erbärmlich. Die „geerbten“ Federbetten und Wehrmachts-
decken wärmten nur unvollkommen, so dass wir uns zur Nacht immer warm anzogen. Wirklich warme
Sachen waren im Winter 1945 rar, denn wir hatten beim Angriff am 15. März 1945 alles verloren. Von
Bombenangriffen verschont gebliebene Verwandte, Bekannte und uns wohl gesonnene Menschen hatten
unserer Familie das Nötigste an Kleidung und Hausrat überlassen, oft ziemlich verschlissene Stücke, die von
meiner Mutter, so gut es ging, geflickt wurden. Noch heute sehe ich sie nach Abschluss ihrer täglichen
Hausarbeit auf der aus Wehrmachtszeiten stammenden Eckbank in der Küche sitzend, die Löcher in den
Strümpfen stopfen, Knöpfe wieder annähen, zu klein gewordene Wollsachen aufrebbeln und daraus neue
Pullover stricken. Nie hatte das Flicken und Handarbeiten für sie ein Ende.
Wäschestücke mussten mühsam im Kessel gekocht und selbst im Winter draußen aufgehängt werden. Bei
niedrigen Temperaturen waren die Bezüge und Laken nach kurzer Zeit steif gefroren und trockneten wie
durch ein Wunder trotzdem. Damals wusste ich noch nichts über die „Anomalie“ des Wassers.
Wann gönnte sich diese Frau eigentlich selbst einmal Ruhe und Muße?
Selbst unter den primitiven Umständen der Vorweihnachtszeit band Mutter einen Adventskranz, organisierte
irgendwoher vier Kerzen und bastelte mit ihren vier Kindern aus Papierresten bunte Ketten und
„Hexentreppen“ als Schmuck für den Weihnachtsbaum, den mein Vater für das Fest organisiert hatte.
Unsere schöne Krippe lag unter den Trümmern
unseres Hauses. Also besann sich meine Mutter nicht
lange, beauftragte uns, aus einer der Mergelgruben
grauen Ton zu holen und leitete uns an, daraus
Krippenfiguren zu formen. Eine Möglichkeit, die
Figuren zu brennen, gab es nicht, so dass wir uns
damit begnügten, unsere Werke mit Deckfarben zu
bemalen. Wo meine Mutter den Tuschkasten
erstanden hatte, ist mir bis heute ein Rätsel. Damals
war ich noch zu klein, um gestalterisch mit meinen
großen Brüdern mitzuhalten. Für das Erstellen von
Tonfiguren fehlte mir noch die notwendige
Feinmotorik. Trotzdem wurde ich am Gestalten der
Krippenfiguren beteiligt, indem ich die Aufgabe
bekam, liegende bzw. schlafende Schafe zu kneten.
Die Probleme mit den Gliedmaßen entfielen und
Mutter musste kaum helfend eingreifen. Aus dünnen
Birkenästen baute Vater einen Stall. Kurz vor Weihnachten sammelten wir zur naturnahen Ausgestaltung
frisches Moos; dann war unsere selbst erstellte Krippe fertig. Meine Eltern haben diese Krippe an
Weihnachten Zeit ihres Lebens aufgestellt, für uns eine stete Erinnerung an die entbehrungsreiche
Nachkriegszeit.
Gab es Weihnachtsgeschenke? Natürlich lagen selbstgestrickte Mützen und Schals unter dem Tannenbaum.
Die bunten Teller waren sehr übersichtlich bestückt. Als „Knuddeltier“ hatte mir Mutter eine aus
Fallschirmseide geschneiderte Puppe genäht, die ich bei aller Schonung irgendwann doch kaputtgeliebt
habe. Von Schülern der Anderter Volksschule bekam ich ein im Unterricht gebasteltes Sperrholz-
Meerschweinchen auf Rädern geschenkt. Der Knüller war jedoch ein von meinem Vater selbst gebastelter
hölzerner Lastwagen, der mit selbst gefertigten Bauklötzen beladen war.
Die Weihnachtsgeschenke brachte bei uns niemals der Weihnachtsmann, sondern das Christkind, dem
Knecht Ruprecht zur Hand ging – so auch Weihnachten 1945. Natürlich glaubte ich damals, dass ich alle
meine Geschenke vom Christkind erhalten hatte. Erst später erfuhr ich etwas über deren wirkliche Herkunft.
Gerade als wir mit der „Bescherung“ beginnen wollten, klopfte es an der Barackentür. Meine Mutter öffnete.
Draußen stand eine in alte Wehrmachtsklamotten gehüllte Person, die sich als Weihnachtsmann ausgab und
uns mit Furcht einflößender Stimme weihnachtliche Angst einjagen wollte. Bei meiner Mutter kam dieser
einer Vogelscheuche ähnelnde Mensch nicht gut an. Angst und Weihnachten passten nicht in ihr
Erziehungskonzept. Höflich aber bestimmt bedeutete sie dem selbsternannten Rucksackträger, dass bei uns
gleich das Christkind käme und er doch besser gehen solle, um andere zu beglücken.
Die Geschichte von der Geburt Christi stand in unserer Familie immer im Zentrum jedes Weihnachtsfestes.
1945 konnte ich mich mit den Erlebnissen der „Heiligen Familie“ gut identifizieren, denn wir waren selbst
heimatlos, mittellos und Fremde in Anderten. Die Zeit, neue Freundschaften zu finden, hatte gerade erst
begonnen. Sehnsüchtig dachten wir an das zerstörte Zuhause. Ich erlebte das erste Weihnachtsfest meines
Lebens ohne Bombenalarm.
Zu Beginn der Bescherung standen wir um den kargen Gabentisch herum und sangen die vertrauten
Weihnachtslieder, die Mutter bis zur letzten Strophe auswendig konnte. Während des vorweihnachtlichen
Bastelns hatten wir die Lieder bereits kennen gelernt. Kerzengeruch und der Duft von Äpfeln und selbst
gebackenen Keksen durchzog unsere kleine Stube, deren Ofen zur Feier des Festes angeheizt worden war.
Das “für die Jahreszeit zu milde” Wetter und
die Windstille um Weihnachten 1945 waren nur
die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.
Zwischen den Feiertagen nahte ein Unwetter
mit orkanartigen Böen. Zahlreiche Menschen,
die das erste friedliche Weihnachtsfest gefeiert
hatten, sollen den Tod gefunden haben.
Auch unsere Baracke knackte, der Regen
peitschte gegen die dünnen Fensterscheiben.
Die neben der Baracke stehenden Ulmen
bogen sich im Sturm. So mancher Ast brach
herab. Pappdächer wurden hochgerissen,
doch unsere Notbehausung blieb
glücklicherweise verschont. Bald würde ein
neues Jahr beginnen. Unsere Familie war
weiter auf dem Wege in eine ungewisse
Zukunft. Aber wir besaßen ein einfaches Dach
über dem Kopf, das wir unser Zuhause nannten - und hatten uns.
Haus Selke vor der Zerstörung 1945
Notunterkunft am Schützenplatz 1945 - 1952
1945 erhalten gebliebene Krippe der Herz-Jesu-Kirche nach 1950