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Mama, wann gehen wir endlich nach Hause? Erinnerungen an den verheerenden Bombenangriff auf Misburg-Süd (”Jerusalem”) am 15. März 1945 Bildbericht: Gisbert Selke
„Mama, wann gehen wir nach Hause?“, fragte ich meine Mutter als vierjähriger Quälgeist. – „Bald“, antwortete sie geduldig. Wenig später: „Wann gehen wir endlich nach Hause?“ – „Jetzt noch nicht.“ – „Mama, ich möchte jetzt endlich nach Hause gehen!“ – „Ja, dann gehen wir jetzt nach Hause“, sagte meine Mutter schließlich. Es war bereits der dritte Tag nach dem verheerenden Bombenangriff auf Misburg-Süd am 15. März 1945. Meine Mutter nahm mich an die Hand und verließ mit mir den Bunker an der Karlstraße, in dem wir bereits drei Nächte zusammengepfercht zugebracht hatten. Nichts war „auf Jerusalem“ mehr so, wie ich es in Erinnerung hatte. Von den Häuserzeilen an der Max-Kuhlemann-Straße, der Karlstraße, Liebrechtstraße, Hartmannstraße und der Hauptstraße Am Bahnhof (heute Anderter Straße) waren weitgehend nur ausgebrannte Fassaden oder Trümmerhaufen übrig geblieben. Nur vereinzelt flogen noch Funken aus den letzten Brandnestern der Ruinen. Der höllische Schein der Feuerwalze, die über den gesamten Ortsteil hinweggezogen war und deren Anblick mich in der Bombennacht zugleich fasziniert, traumatisiert und erschüttert hatte, war erloschen. Nur rauchende Trümmer, geschwärzte Wände und hohle Fensterlöcher signalisierten dem Betrachter, dass hier ein Inferno geherrscht hatte. Zusammen mit verstörten Nachbarn und Bekannten kletterten meine Mutter und ich über die noch heißen Schuttberge, in denen ich als gerade Vierjähriger vergeblich nach lokalen Orientierungspunkten Ausschau hielt. So sehr ich unser Haus auch suchte, es blieb verschwunden. Der Weg durch die Trümmerwüste endete schließlich vor einem Stein- und Geröllhaufen. Reste des ehemaligen Kellergeschosses kamen mir irgendwie bekannt vor. Nach längerem Schweigen sagte meine Mutter schließlich: "Nun sind wir zu Hause." Sie sagte nicht, "das war einmal unser Zuhause", sondern "nun sind wir zu Hause". Ich sah keine Tränen in ihren Augen, spürte aber trotz meiner kleinkindlichen Naivität, dass sich hier etwas Schreckliches, Unfassbares, Irreparables ereignet hatte. Wo waren mein Bett, meine Spielsachen, unsere Wohnung, wo war der Kaufmannsladen meiner Oma Mathilde, der im Hause befindliche Schlachterladen, unsere Spielecke, die Bäume vor unserem Haus, Am Bahnhof 22? Nichts war übriggeblieben. Selbst der im Keller gut verstaute und sicher geglaubte Hausrat war verbrannt, das Geschirr in der Hitze der Phosphorbomben zur unförmigen Masse verschmolzen. Uns war buchstäblich nur das geblieben, was wir auf dem Leibe trugen. Selbst von den weißen Perlmuttknöpfen meines Wintermantels schien der frische Glanz gewichen zu sein. Angesichts des Chaos’ wagte ich nicht nach meinem Dreirad zu fragen. Es war verbrannt. Lediglich ein leichter Sessel unserer Wohnzimmereinrichtung hatte das Unheil leicht beschädigt überstanden. Wir fanden ihn auf der Hauptstraße. Ich kann nicht mehr sagen, wie lange meine Mutter und ich in der Trümmerwüste unterwegs waren. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Als wir schließlich den Bunker wieder erreichten, der nun unsere Notunterkunft war, erblickte ich hoch in dem Wipfel einer der am Rande des Schulhofes stehenden Kastanien, die Reste meiner Kinderkarre, in der mich meine Mutter jeweils bei Fliegeralarm hastig zum Bunker gefahren hatte. Zu Fuß wäre ich als Vierjähriger viel zu langsam gewesen. Durch den Druck einer in unmittelbarer Nähe des Bunkers explodierenden Luftmine war meine Kinderkarre in der Bombennacht zusammen mit anderen Kinderwagen und Fahrrädern hochgeschleudert worden und in den Ästen der Bäume hängen geblieben, für mich ein eindeutiges Signal, dass meine Kleinkindzeit nun endgültig Vergangenheit war. Vor dem Bunker wurde sauer gewordene Milch verteilt. Wegen der vielen unpassierbaren Straßen hatte sich deren Anlieferung stark verzögert. Obwohl ich beileibe nicht zu den Freunden saurer Milch gehörte, waren Hunger und Durst weit stärker, als dass ich einen Tropfen davon verschmäht hätte. In den Tagen nach der Bombardierung Jerusalems habe ich erstmals erlebt, wie gering die Bedürfnisse eines traumatisierten Kindes sein können: Etwas zu essen und zu trinken, ein Feldbett, das ich mit meinen drei Brüdern teilten musste, und das Wissen darüber, dass niemand aus unserer Familie umgekommen war. Einige Tage später reisten wir mit der Eisenbahn von Anderten-Misburg über Lehrte nach Celle, um bei meinen Großeltern unterzukommen. Zwischen Burgdorf und Otze geriet der Zug unter Tieffliegerbeschuss. Hier schützte uns lediglich ein niedriger Bahndamm und wir mussten erleben, dass der Krieg keineswegs zu Ende war.
Bildquellen: Werner Steinwachs, Berthold Peil, Siegfried Engelhardt
Feuersbrunst in der Nacht nach der Bombardierung "Jerusalems", Misburg-Süd
Zerstörte Häuser in der unteren Liebrechtstraße
Blick in die obere Liebrechtstraße - rechts: Max-Kuhlemann-Str. 10 am Spielplatz
Ruinen in der unteren Liebrechtstraße - Haus Matz, Haus Ossowski (rechts)
Durch eine Luftmine zerstörte Volksschule II, vor 1938 Katholische Schule - Blick vom Bunker über den Schulhof nach Süden
Zerstörte Herz-Jesu-Kirche, Max-Kuhlemann-Str. 13 - Blick vom Bunker über den Schulhof nach Osten - links das zerstörte Pfarrhaus
Bauvereinshäuser Max-Kuhlemann-Str. 8 und 10 - ganz rechts Max- Kuhlemann-Str. 7 östlich des Spielplatzes Blick vom Bunker in der Karlstraße nach Norden, im Hintergrund der Wasserturm nördlich der Hartmannstraße
Ruine des "Eisengießerei-Hauses", Karlstraße 4
Karlstraße, Ecke Am Bahnhof - zerstörtes Eckhaus Holert - Blick nach Süden zum Bahnhof Anderten-Misburg
Haus Holert - Blick in den zerstörten Keller
Hauptstraße "Am Bahnhof" (heute Anderter Straße) - Blick nach Norden auf die Ruinen an der der Einmündung Karlstraße
Luftbild vom April 1945 Blick nach Nordwesten im Vordergrund die Ruinen der Portland-Cementfabrik Germania, dahinter die Reste der Hannoverschen Portland-Cementfabrik, weiter links die Ruinen der Norddeutschen Portland-Cementfabrik und der Portlandcementfabrik Kronsberg links im Hintergrund die Erdöl-Raffinerie Deurag-Nerag im Hintergrund Misburg-Mitte
Siegfried Engelhardt hat die Ereignisse des 15.03.1945 in seinem Buch „5 Jahre im Hagel der Bomben – eine Chronik der Luftangriffe auf Misburg 1940 bis 1945“ beschrieben. NANAnet Misburg-Anderten veröffentlicht den Bericht über den 15.03.1945 mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Das Buch ist erhältlich bei Wegeners Buchhandlung Hannover-Misburg Buchholzer Straße, Ecke Knauerweg
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