© NANAnet Misburg-Anderten
Ansprache
zur Gedenkfeier am
Volkstrauertag 2015 auf dem
Waldfriedhof in Misburg
am 15.11.2015
Referent: Gisbert Selke
Sehr geehrte Damen und Herren,
Novembertage sind Tage des Gedenkens an unsere Toten.
Zwischen den kirchlichen Gedenktagen Allerheiligen und Totensonntag ist der Volkstrauertag
eingebettet. Ein Volk, unser Volk, trauert um die unfassbar vielen Opfer von Kriegen und
Gewaltherrschaft. Wir werden mit Zahlen konfrontiert, die jede menschliche Vorstellungskraft
übersteigen.
Vor 70 Jahren endete der von den Nationalsozialisten angezettelte Zweite Weltkrieg, der in der
größten Katastrophe endete, die Deutschland jemals in seiner Geschichte erlebt hat.
Vorbei war es mit der „Heldenverehrung“, der die Nazis 1934 den so genannten „Heldengedenktag“
gewidmet hatten. Übrig geblieben waren Tod, Leid und Elend - ein geschlagenes Volk, das keine
Tränen mehr hatte, um die Ausweglosigkeit seines Daseins zu beweinen.
Ich gehöre jener Generation an, die in den schrecklichen Zweiten Weltkrieg hineingeboren wurde.
Während meiner Geburt fielen in unmittelbarer Nähe des Vinzenzstifts die ersten Bomben auf
Hannovers Wohngebiete.
Krieg prägte den Alltag meines jungen Lebens. Das Wort „Frieden“ gehörte nicht zu meinem
kindlichen Wortschatz. Meine Familie verlor am 15. März 1945 im Bombenhagel das gesamte Hab
und Gut, doch Gott sei Dank kam niemand von uns zu Schaden.
Wir fanden eine Notunterkunft in Anderten auf dem Schützenplatz. Dort lernte ich, was ein
Kriegerdenkmal ist. Dessen wahrer Sinn, nämlich Mahnungs- und Gedächtnisort zu sein, blieb mir
damals verborgen.
In Deutschland und Europa finden wir kaum einen Ort ohne ein Kriegerdenkmal. Ihre Gestaltung
offenbart viel von der Mentalität oder dem Nationalbewusstsein der Menschen jener Zeit, in der sie
entstanden.
Die älteren Denkmäler wollen zu allererst an die Siege und heroischen Taten erinnern. Dabei werden
letztlich die Schicksale und Leiden der ungezählten Opfer und deren Blutzoll beim Einsatz für
zweifelhafte Kriegsziele verschwiegen. So wurde bis in unsere Zeit hinein nicht so sehr um die Toten
von Krieg und Gewaltherrschaft getrauert, sondern der Helden gedacht. –
Helden - aber wofür?
Das älteste Denkmal in unserem Stadtbezirk steht am Rande des Schützenplatzes in Anderten direkt
neben dem Feuerwehrgerätehaus. Es wurde 1913 – also 100 Jahre nach der Völkerschlacht bei
Leipzig - errichtet und soll an den Sieg über die napoleonischen Truppen erinnern. Das Ensemble aus
Findlingen ähnelt einem Hünengrab und ist Ausdruck der so genannten „vaterländischen Gesinnung“
zur Zeit des Zweiten Deutschen Reiches unter der Herrschaft Kaiser Wilhelms II.
Kurze Zeit später begann der Erste Weltkrieg (1914 – 1918) in dessen Verlauf weltweit über
17 Millionen Menschen, darunter mehr als 3 Millionen Deutsche starben. Bei Historikern gilt der
Erste Weltkrieg als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, deren Folgen – wir brauchen
beispielsweise nur in den Nahen Osten und auf den Balkan zu schauen - bis heute spürbar sind.
Tiefe Trauer herrschte über die „für das Vaterland auf dem Felde der Ehre Gefallenen“. In den Städten
und Gemeinden füllten die Namen der „im Felde Gebliebenen“ ungezählte Kolumnen auf den
Gedenktafeln und Denkmälern.
Familien, die keinen Kriegstoten zu beklagen hatten, bildeten die Ausnahme. Auch in unserem
Stadtbezirk hielt der Tod in den Jahren 1914 bis 1918 reiche Ernte. Wir müssen nur auf die
Gedenktafeln am Eingang der Kapelle schauen.
Nur gut zwei Jahrzehnte später begann – ausgelöst von Nazi-Deutschland - der zweite auf globaler
Ebene geführte Krieg des 20. Jahrhunderts.
Der Zweite Weltkrieg (1939 – 1945) kostete nach Schätzungen der Historiker mehr als
55 Millionen Menschenleben, darunter viele Ziviltote und Opfer der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft. Er stellt damit den bislang größten und verlustreichsten Konflikt in der
Menschheitsgeschichte dar.
Die Bewohner unseres Stadtbezirks hatten während des Krieges nicht nur den Tod weiterer
zahlreicher Gefallener zu beklagen; vielmehr erlebten sie den 1940 einsetzenden grausamen
Bombenkrieg in seiner ganzen Härte und verloren bei weit mehr als 40 Angriffen zahlreiche
Angehörige und vielfach ihr gesamtes Hab und Gut. Darüber hinaus starben zahlreiche
Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Insassen.
Angesichts der hohen Opferzahlen fehlt uns jegliche Vorstellungskraft dafür, was Menschen während
der Kriegsereignisse durchgemacht haben oder wofür sie sterben mussten. Jeder Tote ist einer zu
viel. Jedes Opfer war ein Mensch wie du und ich, hatte Familie, Verwandte, Freunde und
Arbeitskollegen.
Auch auf unseren Friedhöfen im Stadtbezirk Misburg-Anderten entdecken wir Kriegsgräber von
Soldaten und Ziviltoten, die wir kannten, deren Kinder oder Verwandte Teil unseres Lebens waren
oder noch sind oder sogar zu unseren Verwandten zählen.
Nur anhand dieser Einzelschicksale können wir verstehen lernen, was sich Menschen angetan haben.
Ich habe viele Kriegsgräberstätten in Westeuropa und Deutschland besucht, nicht nur deutsche,
sondern auch solche der Alliierten.
Ich habe vor unfassbar vielen Kreuzen und Stelen gestanden. Allen war eines gemeinsam: Die dort
verzeichneten Lebensdaten beschrieben Menschen, die ihr Leben noch vor sich hatten, Väter, die
kleine Kinder in der Heimat zurücklassen mussten, Menschen, die vom Frieden träumten und dem
Kriegsgeschehen schließlich gnadenlos zum Opfer fielen.
Natürlich war ich bei meinen Besuchen von Kriegsgräberstätten tief erschüttert, ob nun in Verdun,
Lommel (mehr als 39.000 Tote), Margraten (8.300 amerikanische Tote), Ysselsteyn (31.598 deutsche
Tote) oder Saint-Laurent-sur-Mer (20.000 amerikanische Tote), insbesondere auch in Champigny-
Saint-André-de-l’Eure, wo der Bruder meiner Mutter und Vater zweier Söhne zusammen mit 20.000
Kameraden seine letzte Ruhe gefunden hat.
Angesichts der ungezählten Kreuze und Stelen kann kein Mensch die Tränen unterdrücken, auch ich
habe geweint.
Letztlich hat mich aber eine kleine Kriegsgräberstätte in Dänemark besonders beeindruckt, auf der
100 deutsche Kriegsopfer bestattet worden sind.
Nicht weit vom Grab meines vor einigen Jahren verstorbenen dänischen Freundes Hermann auf dem
Stadtfriedhof von Holstebro in Westjütland befindet sich ein gepflegtes Gräberfeld des Volksbundes
Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Dort ruhen 8 Soldaten und 92 zivile Opfer, darunter viele Kleinkinder
und Säuglinge, die erst in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs starben, Kinder, deren Leben
gerade erst begonnen hatte, wahrscheinlich Flüchtlinge aus Ostpreußen, die über die Ostsee nach
Dänemark gelangten und dann am Ende ihrer Kräfte waren und starben.
Exemplarische Beispiele des Grauens finden wir über ganz Europa verstreut, doch wir finden sie auch
in nächster Nähe.
Als Lehrer habe ich regelmäßig mit meinen Schülerinnen und Schülern Gedenkstätten in unserem
Stadtbezirk aufgesucht. Regelmäßig besuchten wir auch das Gelände des ehemaligen
Konzentrationslagers Bergen-Belsen und die benachbarte Kriegsgräberstätte Hörsten, auf der nahezu
20.000 unter erbärmlichen Umständen umgekommene sowjetische Kriegsgefangene bestattet sind.
Zwischen den Massengräbern in Bergen-Belsen entdeckten meine Schülerinnen und Schüler einen
Gedenkstein für Anne Frank und deren ältere Schwester Margot, deren Lebensgeschichten aus dem
Unterricht bekannt waren. Beide starben wahrscheinlich im März 1945, kurz bevor das Lager durch
die britischen Streitkräfte befreit wurde. Die Zahl der 50.000 Opfer im Lager – 14.000 davon starben
noch nach der Befreiung - überstieg die Vorstellungskraft meiner Schülerinnen und Schüler, aber an
den Einzelschicksalen Anne Franks und Ihrer Schwester konnten sie Leid und Grauen exemplarisch
nachempfinden.
In der Rückschau auf den Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen und der angrenzenden
Kriegsgräberstätte für sowjetische Kriegsgefangene in Hörsten und unter dem Eindruck der zu Herzen
gehenden Sprüche auf der langen Klagemauer entwickelte sich bei den Schülerinnen und Schülern
eine tiefe Betroffenheit und eine ehrliche Sehnsucht nach Frieden. So ist auch zu verstehen, dass der
Satz „Frieden machen und Frieden halten“ in das Leitbild der Pestalozzischule aufgenommen
wurde.
Damit erübrigten sich Transparente über dem Schulportal wie „Schule gegen Gewalt“ oder „Schule für
den Frieden“. Jede Schülerin, jeder Schüler der Schule weiß, dass Gewalt, Fremdenhass und
Ausgrenzung schwere Verstöße gegen die Friedenspflicht in der Schule sind.
Friedenserziehung beginnt in der eigenen Familie, im eigenen Hause, in der eigenen Schule, in der
eigenen Mannschaft, durch soziales Engagement oder auch bei der Pflege von Kriegsgräberstätten,
organisiert durch den „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“.
Seit mehr als 70 Jahren haben wir Frieden. Meine Generation hat die längste Friedenszeit erlebt, die
es in Europa je gegeben hat. Meine Generation verband mit dem Wort „Frieden“ zunächst Hunger,
Kälte, Flucht, Vertreibung und Obdachlosigkeit. Es dauerte lange, bis der wahre Frieden auch in
unserem eigenen Leben sichtbar wurde.
So wurden wir das, was wir heute sind.
Sind wir somit zu Friedensstiftern geworden?
Die Welt um uns herum kennt immer noch keinen Frieden. Wieder sterben unzählige Menschen durch
Gewalt, Terror und Krieg, wieder sind 60.000.000 Menschen auf der Flucht und sie strömen in Massen
nach Europa, auch in unser Land.
Zur Versöhnung ausgestreckte Hände unserer ehemaligen Kriegsgegner haben unserem Land einst
wieder auf die Beine geholfen und Deutschland zu einem Staat werden lassen, der auf der Grundlage
unserer europäischen Werteordnung dem Frieden dienen will.
Unser Frieden wurde teuer erkauft. Unser Frieden konnte nur gelingen, weil es nicht nur Trauer um
die vielen Opfer gab, nicht nur aufgrund der uns entgegen getreckten Hände der Versöhnung, sondern
dieser Friede bedurfte auch eines waffenlosen Heldentums, eines stillen Heldentums, dessen
einzige Waffe es war, inneren Frieden zu stiften und sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit zu schaffen.
Frieden wird nicht mit lautem Getöse auf Straßen und Plätzen oder unter Missachtung des
menschlichen Miteinanders gestiftet, Frieden beginnt, wie schon gesagt, in der Familie, an der
Haustür, muss aus dem Innersten heraus wachsen, muss integraler Bestandteil jeglicher Bildung und
Erziehung sein. Niemand entbindet uns von der pädagogischen Pflicht, unsere Kinder zu stillen
Helden für den Frieden zu erziehen.
Am Volkstrauertag gedenken wir nicht nur der ungezählten Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Am
Volkstrauertag ergeht an uns die Mahnung, den oft beschwerlichen Weg zum Frieden nicht zu
verlassen.
Versöhnung zwischen den Völkern gelang erst angesichts der massenhaften Kriegsgräber und
trotzdem tauchen wieder Rattenfänger auf, die Egoismus und Intoleranz predigen und Hass
verbreiten.
Die Einsicht, in Europa friedlich zusammenzuleben, entwickelt sich nicht von selbst. Sie muss täglich
neu geweckt werden. Das gelingt nur, wenn sich Menschen aller Generationen wehrhaft,
insbesondere aber als stille Helden für den Sieg von Frieden und Versöhnung konsequent einsetzen.
Bergen-Belsen - Friedhof und Mahnmal
Gedenkstein - Anne und Margot Frank
Kriegsgräberstätte sowjetischer
Kriegsgefangener in Hörsten
Teilansicht
Bildquellen: Wikipedia
Kriegsgräberstätte Holstebro
Westjütland - Dänemark
Bilder: Gisbert Selke
Waldfriedhof Misburg - Gedenktafeln für
die Gefallenen des Weltkriegs I
Waldfriedhof Misburg - Ruhestätte für
Kriegsopfer des Weltkriegs II
Friedhof Anderten, Ostfeldstraße
Ruhestätte für Kriegsopfer des
Weltkriegs II
Bilder: Werner Rambke, Gisbert Selke